Prävalenz von psychischen Krankheiten & äußere Faktoren

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ClaireFontaine
ErclaireBaireIn
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Beitrag von ClaireFontaine » 1. Aug 2017 17:21

illith hat geschrieben:ich hatte vorhin ein langes und interessantes Gespräch mit meiner Mutter über Psychoprobleme.

wie ist denn das: entspricht der Eindruck der Realität, dass je weniger massive/existenzielle Probleme es in einer Gesellschaft gibt (Krieg, Hungersnöte, sowas), desto mehr (intrinsische?) psychische Probleme treten auf (Esstörungen, Depressionen & Co)?
und falls das der Fall ist: kommt das daher, dass man so mit Überleben beschäftigt ist, dass so ""nur"" psychologische Probleme, die trotzdem da sind, nicht intensivere Beachtung finden (können)? oder ist es so, dass das Fehlen solcher längeranhaltenden äußeren Krisen eine Art Void hinterlassen und darin bestimmte Mental-Illness-Geschichten erst heranwachsen können? oder noch was anderes?
und wie weit sind intrinsische Psycho-Krankheiten doch von äußeren Faktoren beeinflusst, bedingt oder abhängig?
Also die These, dass psychische Probleme Luxusprobleme einer Gesellschaft sind, die nicht für das Überleben kämpfen muss, ist sehr gewagt. Das ist so, als würde ich die Möglichkeit eines Beinbruches oder eines anderen körperlichen Problems ausschließen, nur weil gerade eine große Fleischwunde da ist, die so stark blutet, dass ich mich zuerst darum kümmern muss, dass ich nicht verblute. Und lässt außer Acht, dass diese Fleischwunde nicht auch Folgeschäden nach sich ziehen kann.
Wären Menschen, die um das Überleben kämpfen mussten, dann immer glücklich oder zwangsläufig depressiv, wenn das nicht mehr der Fall wäre und sie in gesicherten Umständen leben würden?

Ich glaube dieser Erklärungsansatz deiner Mutter ist ein beliebter Versuch, mit einer sehr komplexen Welt zurecht zu kommen und hat was von "früher war alles besser". Ja, unsere Welt hat sicherlich an Komplexität zugenommen und wahrscheinlich fällt es einigen schwer, damit zu recht zu kommen. Mehr Freiheit und mehr Individualisierung bedeutet ja auch gleichzeitig weniger Führung. Ergo, wenn wir jetzt Krankheiten besser erkennen und differenzierter betrachten können, heißt das nicht zwangsläufig, dass wir diese erfinden.

Wenn man mal in der Geschichte zurück guckt, gibt es genug Hinweise darauf, dass es solche Erkrankungen früher schon gegeben hat, z.B. in klassischer Literatur. Aber auch ganz realistisch, z. B. fällt mir da https://de.wikipedia.org/wiki/Hysterie#19._Jahrhundert ein:
Sehr lange wurde Hysterie sogar als eine ausschließlich bei Frauen auftretende, von einer Erkrankung der Gebärmutter ausgehende körperliche und psychische Störung verstanden. Frauen, die unter Hysterie leiden, weisen diesem Krankheitsverständnis nach häufig bestimmte Persönlichkeitsmerkmale auf (ichbezogen, geltungsbedürftig, kritiksüchtig, unreflektiert etc.). ...[...] Konzeptionell ging man unter anderem davon aus, dass die Gebärmutter, wenn sie nicht regelmäßig mit Samen (Sperma) gefüttert werde, im Körper suchend umherschweife und sich dann am Gehirn festbeiße. Dies führe dann neben weiteren Krankheitssymptomen zum typischen „hysterischen“ Verhalten.
Man kann sich dem aber auch mit reinem Menschenverstand nähern: Wenn wir uns das Mittelalter und seine medizinische Versorgung ansehen, können wir davon ausgehen, dass Menschen mit verschiedenen Krankheiten einfach nicht lange gelebt haben. Und in einer Zeit, als Mord und Vergewaltigung an der Tagesordnung waren, haben die Menschen sicherlich nicht glücklich und zufrieden gelebt.
Ähnlich wie hier schon geschrieben, verhindern solche Gräuel nicht das Entstehen von psychischen Problemen, im Gegenteil. Menschen entwickeln sicherlich unterschiedliche Methoden, damit fertig zu werden, die, je nach Umfeld, gut oder weniger gut funktionieren.

Ich denke, was man auch nicht vergessen darf, ist, dass unser Wohlstand dazu führt, dass wir auch uns auch um sehr viele Menschen kümmern können, dass wir Forschung betreiben und deshalb mehr Wissen über Erkrankungen haben.
Und letzlich erfordert eine andere Gesellschaft vielleicht auch andere Verhaltensweisen, die zu anderen Krankheiten führt. Vielleicht spielt es auch einfach eine Rolle, dass jemand, der sich heute nicht an die Gesellschaft anpassen kann, trotzdem überlebt - jemand, der das vor einigen hundert Jahren nicht konnte, nicht auf dem Feld stehen konnte und bei der Ernte mithelfen konnte, hatte da vielleicht geringere Chancen.


Persönlich würde ich auch nicht so weit ausholen und immer auf AD(H)S-Kinder zeigen und sie als Produkt unserer modernen Gesellschaft bezeichnen, am besten noch negativ als dysfunktionales Produkt. Und vor allem sehe ich das nicht als Modediagnose. Der von Ars erwähnte Arzt hat z.B. nur angeregt, eine AD(H)S-Diagnostik durchzuführen - jetzt wird ihm aber schon nachgesagt, er wolle irgendwie Krankheiten feststellen, die gar nicht da sind. Einerseits finde ich es gut, wenn Ärzte mitdenken und Vermutungen anstellen, ob da mehr dahinter sein könnte - und andererseits gibt es immer Leute, die vllt unachtsam sind oder zu schnell handeln. Aber das würde ich nicht überdramatisieren und von da aus sicherlich nicht schließen, dass eine Krankheit einbe Modediagnose ist. Nur weil einige den Begriff missbräuchlich verwenden, heißt das nicht, dass es die Krankheit/das Problembild nicht gibt.
Und unabhängig davon, befinden wir uns in einer Gesellschaft, die sich stark wandelt, in ihrer Komplexität, in ihrer Mediennutzung, in Bezug darauf, was vom Gehirn gefordert wird. Und das muss nicht schlecht sein, im Gegenteil. Warum geben wir Menschen nicht einfach Zeit, sich darauf einzustellen, und wenn Erkrankungen wir AD(H)S eine Begleiterscheinung sein sollten oder sich dann als problematisch erweisen, fände ich es doch sinnvoller, da lösungsorientiert ranzugehen, anstatt zu leugnen oder zu stigmatisieren.


Depressionen haben zahlreiche Ursachen. Was ich als Laiin bisher kenne:
- Depressionen aufgrund einer Lebenssituation (Trennung, Umstellung, Arbeitslosigkeit, Krankheit, etc.)
- Depressionen aufgrund von ansozialisierten Verhaltensweisen (Problemlösekompetenz, Hilflosigkeit, negatives Denken, etc)
- Depressionen aufgrund von Erfahrungen
- körperliche bedingte Depressionen

Das wäre so das, von dem ich bisher gehört/gelesen habe, was ich in Gesprächen mitbekommen habe, und bisher gelernt habe. Ich glaube, das wäre schon ein Ding, wenn man behaupten würde, dass das alles eine Erfindung unserer modernen Welt wäre und das nie vorher gegeben habe, bzw. dies alles nur den Luxusproblemen unserer modernen Gesellschaft entspringen würde.
Viel interessanter fände ich dagegen den Ansatz, was wir wirklich von Generation zu Generation weiter geben, also inwiefern wir Verhaltensweisen, Traumata, Bewältigungsstrategien innerhalb von Familien weitergeben und damit vielleicht immernoch Probleme "verdauen" die schon vor Ewigkeiten entstanden sind. Ich mein, vielleicht stammen ja Bewältigungsstrategien wie Verdrängen aus einer Zeit, in der unser Opa im Krieg gekämpft hat und lernen musste, damit fertig zu werden, ohne jemanden zu haben, der ihm das beibringt und dabei hilft und jetzt stehen wir da, zwei, drei Generationen später, und wenden dieselben Methoden an und halten das für ein Luxusproblem der modernen Gesellschaft.

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