Obdachlose "faule Versager" ? ne, natürlich nicht;)

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Wunderblümchen
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Obdachlose "faule Versager" ? ne, natürlich nicht;)

Beitrag von Wunderblümchen » 6. Okt 2014 06:23

Moin,

wollte mal dieses Thema hier aufgreifen, da es mich selbst beschäftigt.

Und ne, Obdachlose sind keine faulen Versager...Wenn ich mir einen 8-seiten-Antrag auf Arbeitslosengeld oder h4 angucke - grausam. Wenn man da irgendwann nicht mehr kann, da man ja mit der Arbeitslosigkeit ja auch oft Probleme hat, ist es eigentlich eher unmenschlich. Sinn könnte es vielleicht in dem Sinn machen, weil auch Arbeiter ihre Einkommenserklärung schreiben, dass es steuerliche Gründe haben könnte?

jedenfalls: wie kommt man wieder rein ins System, ins Berufsleben? Ab 35 wird es schwierig, mit Umschulungen könnte es vielleicht noch klappen, aber wenn einen keiner nimmt? Ein Jahr mal draußen gewesen sein, mit was kann man wieder anfangen?

Länger draußen gewesen sein, weil vielleicht kinder da sind, Qualis fehlen?

Was meint ihr?

lg
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Akayi
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Beitrag von Akayi » 6. Okt 2014 06:30

Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit?
recherchiert, was rechtlich so möglich ist

Wunderblümchen
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Beitrag von Wunderblümchen » 6. Okt 2014 10:57

Na ja, ich denke, dass aus Arbeitslosigkeit u.U. Obdachlosigkeit entstehen kann. Bspw. aufgrund von Kettenreaktionen zum Beispiel: Verlust des Partners, Depressionen, Alkohol, keine Kraft für Arbeit bzw. nötige Bürokratie mehr haben, Miete nicht mehr zahlen können, Rausschmiss, Zwangsräumung ....

.... und ist man erst einmal obdachlos, kommt man schlecht wieder rein, weil, keine Adresse usw. usw. - die Vorurteile usw.

Wird ja eigentlich schon viel überlegt, was das Wieder-Integrieren von (ehem.) Obdachlosen betrifft. Obdachlosen-Einrichtung, Sozialgeld, die Eingliederungsjobs und -maßnahmemöglichkeiten vom Arbeitsamt ....vorausgesetzt, man ist in der Lage, so zu funktionieren, dass ein Wiedereinstieg möglich wird, denke ich mal.
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Simsa
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Beitrag von Simsa » 6. Okt 2014 14:31

Obdachlosigkeit kann natürlich aus Arbeitslosigkeit entstehen. Wobei ich da - auch in deinem Beispiel - eher die psychische Krise als Auslöser ansehen würde.
Und dann hat dieses Hilfesystem eine ganze Menge damit zu tun, dass man aktiv wird. Das ist recht hochschwellig.
Das erfordert, dass man sich kümmert und das haben diese Menschen ja oftmals lang genug nicht gemacht. Wie kann man von jemandem verlangen, im Internet zu recherchieren oder zu einer Hilfestelle zu gehen (Bahnhofsmission zB), wenn dieser jemand seit Monaten nicht mal mehr seine Post öffnen konnte und so völlig von der Zwangsräumung "überrascht" wurde?

Dann hat das natürlich auch viel mit dem Verlust des eigenen Selbstbildes zu tun. (Ist nur einseitig beleuchtet, da ich hier nunmal nur mit Männern arbeite)
Das Selbstbild des Mannes in dieser Gesellschaft ist nunmal das des Arbeitnehmers, des Machers, Familienoberhaupt und -ernährer.
Sich damit auseinanderzusetzen, dass man all dies jetzt nicht mehr ist, kostet enorm viel Kraft und Stolz.
Auch ein Grund, warum viele unserer Männer lieber hungern als zu einer Stelle für kostenloses Essen zu gehen, zum Beispiel.

Arbeit als Wiedereingliederung ist hier selten Thema, muss ich sagen.
Da spielt eine Menge eine Rolle. Alter, natürlich. Psychische Auffälligkeiten (Depressionen!, aber auch Schizophrenie, Psychosen; sehr viel bleibt auch unbehandelt s. wieder Selbstbild). Sucht (Spielsucht, Alkohol... heißt nicht, dass der Mann nicht wohnen kann. Aber Arbeit finden wird schwierig). Vorbildung (viele der Männer hier haben keinen Schulabschluss, nie wirklich langfristig gearbeitet, wenn dann nur in komischen Zeitarbeitsfirmen, Abhängigkeitsverhältnissen oder obskuren Selbstständigkeiten...) Ich sage extra VIELE, denn natürlich gibt es auch hier Ausnahmen!
Vorgeschichten, schlechte Führungszeugnisse.

Wohnen kann man durchaus auch ohne Arbeit. Es kostet nur enorm viel Kraft, Arbeit und Frustration, um eine zu finden. Und da beißt sich die Katze halt oft in den Schwanz.

Und DANN gibt es natürlich noch die Leute, die durch´s Netz rutschen. Wohnfähig wären, daber keinen Zugang zum Hilfesystem haben (Sprache) oder von 90% der Vermieter abgelehnt werden (Alter, Aussehen, Herkunft) oder einfach noch nicht lange genug in der Stadt leben, um einen Antrag auf Sozialwohnung zu stellen.

Großes Thema, sorry :D Tut mir leid wenn ich ein bisschen den Faden verloren habe, aber einfach ist das beileibe nicht.

Curumo: Ich denke im Übrigen nicht, dass Obdach-/Wohnungslose faule Versager sind. Ich denke, da stecken vielschichtige Probleme dahinter, die man eben nicht mal so kurz analysieren kann.
Dieses Thema ist aber ein politisch unbeliebtes, gesellschaftliche Randgruppen. Deswegen hört man darüber auch nicht viel. Und ja, trotzdem ich jeden Tag mit diesen Menschen arbeite bin ich immer wieder erstaunt, an welchen Dingen es immer wieder scheitern kann. Dinge, die für mich selbstverständlich sind und ich deswegen nie als potenzielles Stolpergebiet erkannt habe. Das hat mMn nichts mit Ignoranz zu tun.
Schlimm finde ich, wenn man Menschen von öffentlichen Plätzen verweist, damit die "Normalgesellschaft" nicht mit den Problemen behelligt wird, die andere Menschen ihr Leben kosten können. Das sind aber zwei Paar Schuhe.

Wunderblümchen
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Beitrag von Wunderblümchen » 6. Okt 2014 18:52

Hallo simsa,

danke für deine Antwort :) Ja, das Thema ist komplex. Die Gründe für Wohnungslosigkeit sind vielfältig und müssen nichts mit Faulheit zu tun. Ich denke, man kann faul sein, aber dass man ein Dach über den Kopf braucht ahnt man intuitiv, wenn man gegen Wohnungsverlust nichts tun kann, spielen da andere Gründe mit rein.

Vielleicht auch Verzweiflung. Die Zwangsmaßnahmen vom Arbeitsamt / Jobcenter - wenn Erwachsene andere Erwachsene wie Kinder behandeln und man versteht als erwachsene Person die Welt nicht mehr, muss sich anpassen oder eine Geldkürzung als Damoklesschwert über einen. Ein, zweimal macht man es mit und wenn Zusagen auf Bewerbungen ausbleiben, kann man verzweifeln eine Kürzung von h4 jagt die nächste, weil man vor Frust den veständnislosen (gesetzesausführenden) Sachbearbeiter nicht mehr ertragen mag - manche können sich natürlich zusammenreißen. Fehlen Kinder, sonstige Aufgaben, ein, PartnerIn - kann man komplett keinen Sinn mehr in die als Demütigung empfundenen Handlungen mehr sehen - man fängt an, die Dinge schleifen zu lassen. - und ich kann das irgendwie sehr gut verstehn. Vor allem die Bürokratie!

Ein Betroffener hat mehrere websites und homepages erstellt und hilft so anderen Betroffenen: Richard Brox https://www.google.de/search?sourceid=i ... gws_rd=ssl

http://ohnewohnung-wasnun.de/
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Beitrag von somebody » 6. Okt 2014 19:40

Bei den obdachlosen Menschen, die Kontakt zu einer Schuldnerberatungsstelle finden, stellen nach meiner Beobachtung Arbeitslosigkeit, Hartz IV, Scheidung/Trennung/Gewalt in der Beziehung, psychische Erkrankungen/Behinderungen, seit Jahrhunderten reformbedürftiges Rechtswesen bzw real existierende Klassenjustiz, Versagen sozialer Dienste etc wesentliche Ursachen für deren Obdachlosigkeit dar.
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Simsa
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Beitrag von Simsa » 6. Okt 2014 19:42

Ja, die Seite hab ich auch schonmal gesehen. Ganz schön beeindruckend, was der auf die Beine gestellt hat.
Ich denke aber, du unterstützt da die Macht des Jobcenters ;)
Also du hast natürlich recht. Einerseits haben wir da wieder das Thema des "Betteln" gehens, andererseits wieder die absolute Überarbeitung der Leute da mit kaum Möglichkeiten des individuellen Handelns.
Und wenn jemand ständig die Termine bei der Arbeitsvermittlung verpasst, bleibt denen nicht viel Spielraum als die Leistungen zu kürzen, sollten sie den Mensch nicht kennen oder einfach falsch einschätzen.
Und natürlich sind diese Kürzungen das Allerletzte, weil sie den Mensch so erpressbar machen.

ABER ich habe noch keinen Mann über 25 Jahren erlebt (und auch von den Kollegen noch von keinem Mann gehört!) der aufgrund von Kürzungen oder Verbummelung seiner Weiterbewilligung seine Wohnung verloren hat.
Denn das ist - bei Menschen über 25 - schon doch auch recht schwer. Unter 25 fällt die 60%-Kürzung weg, das heißt die zweite Kürzung ist schon die Einstellung von allen Leistungen, das hab ich schon erlebt.

Über diesen Männern schwebt ganz schön viel, Geld gehört da aber nicht dazu. Geld ist nur Geld, für die Männer geht es um wesentlich mehr. Sonst wäre unser Job ja pillepalle ;)

edit: Schuldnerberatung ist auch schon ganz schön hochschwellig.
Das setzt voraus, dass man noch über Unterlagen verfügt. Die neuen Unterlagen sammelt. Anruft, und monatelang (zumindest hier wartet man im Normalfall 3-4 Monate) auf einen Termin wartet und dann auch daran denkt, den irgendwann wahrzunehmen... Da wird schon ganz schön im Vorfeld ausgemustert.
Sonst hast du natürlich recht.

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Kim Sun Woo
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Beitrag von Kim Sun Woo » 6. Okt 2014 23:28

Simsa hat geschrieben: Wohnen kann man durchaus auch ohne Arbeit. Es kostet nur enorm viel Kraft, Arbeit und Frustration, um eine zu finden.
wobei das doch so pauschal nicht stimmt. in manchen Teilen Deutschlands ist die Wohnungssuche auch als Bezieher von Sozialleistungen nicht übermäßig schwierig.


@Wunderblümchen
gerade deinen letzten Beitrag kann man aber sehr leicht so lesen, als wäre die Verantwortung letzten Endes eben doch oftmals bei demjenigen, der obdachlos wird (z.b. sich nicht "zusammenreißen").

(denn es ist doch auch gerade ein Unterschied zwischen den von Simsa aufgezählten Beispielen, in den Leute aus verschiedenstens Gründen quasi gar nicht dazu in der Lage sind, zum Termin beim Amt zu gehen... und denen, die schlichtweg keine Lust haben, aber sonst ihre Sachen geregelt kriegen. Zweitere bleiben dann einfach morgens liegen und lassen sich mittags krankschreiben)
Man hat jeden Tag die Chance die bestmögliche Version von sich selbst zu sein. ♥

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Beitrag von Wunderblümchen » 7. Okt 2014 07:08

@somebody: ja, du hast recht, in dem was du schreibst :)

@simsa: danke für deine Antwort, sogar aus der Praxis. Wie meinst du das, ich unterstütze die Macht des Jobcenters? Deren Vorgehensweise halte ich für extrem reformbedürftig.

Ich weiß allerdings nicht, wie schwierig es ist, Reformen umzusetzen, weil so viel Individuelles berücksichtigt werden müsste. Schlussendlich denke ich dann meistens, dann eben doch ein Bedingungsloses Grundeinkommen! Ich weiß z.B. nicht, wie sinnvoll der Erziehungscharakter des Jobcenters ist. Sanktionen (Kürzungen) sind sowas wie Nachsitzen oder Eintrag ins Klassenbuch oder eine schlechte Note eingetragen bekommen.

@Kim Sun Woo: oh, das war dann falsch formuliert. Ich bin da ganz auf der Seite der ehemaligen oder tatsächlichen Wohnsitzlosen, auch für Arbeitslose. Wollte irgendwie die Leute mit einbeziehen, die es irgendwie trotzdem (noch) schaffen, alle Widrigkeiten mitzumachen, war aber thematisch denke ich unnötig oder fehl am Platz.

Das ist gut ausgedrückt, mit der Erpressbarkeit durch Kürzungen, auch was das demütig und gefügig dadurch gemacht werden betrifft.

Mit Sozialleistungen eine Wohnung zu finden kann schon schwierig sein, mag sein, dass es in bestimmten Teilen Deutschlands leichter ist.

Ach, was soll ich sagen, ich kann verstehen, dass einem der Bock auf Schöngetue vornerum (Optik, Garderobe, Bürokratie) zuviel wird, wenn Wesentliches fehlt, ausbleibt, nicht gestillt wird wie Arbeit / Sebstfinanzierung / zufriedenstellende Beziehung und dies besonders, wenn nach Bemühungen nichs klappen will.

Oder wenn jemand von Trauer überwältigt wird und keine Kontrolle mehr darüber findet oder finden mag, weil alles so sinnlos erscheint.

Soziale Hilfseinrichtungen schön und gut ... viel zu oft sind die aber förmlich aufgebaut und echte emotionale Zuwendung kann halt nicht geleistet werden oder nicht in dem Ausmaß des Bedarfs. Aber Unterstützung und Wege aufzeigen natürlich schon. Diese Einrichtungen sind schon ganz schön wichtig. Streetworker können vielleicht auch schon ganz schön wichtig sein?
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Beitrag von Simsa » 7. Okt 2014 07:36

Kim Sun Woo: Sorry, ich rede hier natürlich nur von München.
Woanders kenn ich mich nicht aus.
Allerdings weiß ich von Kollegen aus Berin, dass dort mittlerweile fast immer die Schufa geprüft wird - spätestens ab der ersten Zwangsräumung also nicht mehr drin.
Und von Freunden, die mit Hartz4 nach Leipzig zogen, die dort eine Bürgschaft vorweisen mussten. Und Bürgschaft bedeutet wieder, dass du Jemanden haben musst, der auch noch genug verdient. Für viele Leute ein großes Problem, weil sie sich durch dieses Stigma der Obdachlosigkeit oftmals von sämtlichen Leuten zurückziehen.

Wunderblümchen: Tut mir sehr leid, ich hab mich vertippt :D Ich meinte tatsächlich du überschätzt die Macht des Jobcenters.
Dass ALG II reformiert gehört und mehr als nur ungerecht ist sehe ich natürlcih ganz genauso! Wird aber wohl leider erstmal nicht passieren, weil diese Leute kaum Lobby haben.

Und, sehen wir´s wie´s ist, soziale Hilfeeinrichtungen sind auch an ein Konzept gebunden und im Endeffekt nichts als wirtschaftliche Unternehmen. Wir müssen am Ende ja auch Geld verdienen ;) Dass trotzdem Menschen durch´s Netz rutschen, daran kann ich leider nichts ändern, auch wenn ich es immer wieder erlebe. Und wir erledigen bei Vielen schon viel mehr als das, was mit der Stadt verhandelt ist ;) Ich kann aber nicht die Verantwortung für die Leben von anderen übernehmen.
Ich kann die Menschen respektvoll behandeln, Verständnis zeigen und ihnen Wege aufzeigen, die sie gehen können. Dabei kann ich sie natürlich unterstützen und versuchen, dahin zu bringen, dass sie das irgendwann alleine schaffen.
Ich kann aber nicht die Post öffnen. Das heißt, wenn sie nicht mit einem Brief zu mir kommen, kann ich da auch nichts tun. Ich kann versuchen, sie an Psychiater und Psychologen anzubinden, kann aber nicht entscheiden, dass sie das auch tun. Ich kann niemanden zwingen, soziale Kontakte aufzubauen.
Ich versuche, jedem Klienten die Hilfe zukommen zu lassen, die er benötigt, ohne ihn zu sehr von mir abhängig zu machen (der Sozialarbeiter, der sich sein eigenes Klientel schafft und so... ;) ).
Emotionale Zuwendung über das hinaus... nein, natürlich nicht.
Das können aber auch Streetworker nicht. Die es in München übrigens gibt und die natürlich wichtig sind. Vor allem für die Leute, die eben nicht bereit für Notunterkunft/Pension sind oder schon durchgerutscht sind. Aber auch die können nichts tun als reden.
Für echte Nähe, Körperkontakt, Zuneigung... dazu braucht man Freunde.

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