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von human vegetable » 11. Jan 2021 16:12
Erstmal sind Vegetarier für mich kein Feindbild. Wenn ich mich an die eigene Nase fasse dann merke ich, dass viele meiner persönlichen Ernährungsregeln für andere Menschen auch nicht nachvollziehbar sind, ich bin also keinen Deut besser.
Seine Ernährung im großen Ganzen nach eigenem Gutdünken zu gestalten sehe ich als freiheitliches Grundrecht; anstatt Ge- und Verbote auszusprechen finde ich es sinnvoller, indirekte Anreize zu setzen (z. B. durch Preise, die ökologische und soziale Folgekosten widerspiegeln, bzw. Subvention von gesundheitlich und ökologisch einwandfreien Produkten). Ich möchte also niemandem das Recht in Abrede stellen, seine Ernährung nach selbst aufgestellten Prinzipien zu organisieren, auch wenn diese anderen nicht schlüssig scheinen.
Ich möchte eben nur feststellen, dass die ganze Kategorisierung und Vergleicherei ("Mein Label ist besser als deins, ätsch-bätsch") relativ sinnfrei ist (was viele hier zugegebenermaßen anders sehen werden).
Zweitens sind meine Beispiele keineswegs ausgedacht: Die Frage, ob Veganer nun angeblich nicht-leidensfähige Tiere und deren Erzeugnisse konsumieren dürfen (Muscheln/Honig/Seide usw.) oder nicht sorgt immer wieder für hitzige Diskussionen. Als "health nut" habe ich selbst schon öfter mit dem Gedanken gespielt, entweder sowas oder tierische Nebenprodukte wie Gelatine und Knochen, die bei der Schlachtung von Tieren in Fleisch- und Milchproduktion ohnehin anfallen, in kleinen Mengen zu nutzen, um angebliche Mangelversorgung zu vermeiden. Damit wäre ich dann technisch omnivor, aber tierleidmäßig "cleaner" als die allermeisten Vegetarier. For the record: Das waren nur Gedankenspiele - denn bis jetzt ließ sich jeder vermeintliche Mangel noch vegan beheben.
Auch was Flexitarier angeht, verhält es sich so: Meine Frau isst Fleisch z. B. nur aushäusig bei Familienfeiern, privaten Einladungen etc. Es gibt auch zunehmend gesundheitsbewegte "Pescetarier", die lediglich ein- bis zweimal die Woche Fisch essen. In all diesen Fällen kommt unter dem Strich weniger Tierleid raus als beim typischen Vegetarier, der mehrmals am Tag Milchprodukte und mehrmals die Woche Eier konsumiert.
Dass man im wahren Sinne des Wortes vegan gar nicht leben kann ohne eine Hütte im Wald zu beziehen (und da vermutlich am allerwenigsten) ist schon klar - zumindest mittelbar wird man immer Tierleid erzeugen. Insofern ist die Bezeichnung "Veganer" eigentlich eher ein Ziel als ein tatsächlicher Zustand. Und ähnlich substanzlos ist eben auch die Bezeichnung "Vegetarier". Wie ich eingangs schrieb, man sollte individuelle Ernährungsformen einzelner Personen eher als Punkte in einem mehrdimensionalen Koordinatensystem sehen, mit Achsen wie Tierleid, Umweltverträglichkeit, etc. Die gängigen Kategorisierungen stellen grobe Vereinfachungen dar.
Ach ja, wo wir bei ausgedachten Beispielen sind: Bestimmt könnte man sich auch vegane Ernährungsformen ausdenken (mit viel exotischem konventionell angebauten Obst und Gemüse, Bergen von Kokos- und Palmprodukten - andere Lebensbereiche wie Konsum und Reisen lasse ich mal ganz raus), die ethisch-ökologisch wesentlich mehr reinhauen als ein saisonal-regionaler omnivorer Lebensstil. Es kommt eben nicht auf den Oberbegriff an, sondern was der Einzelne daraus macht.
Ein umweltbewusster und minimalistisch lebender Flexitarier oder Vegetarier mit stark reduziertem Konsum tierischer Produkte (nicht mehr als tägliche Grundnahrungsmittel, sondern nur als bewusste Ausnahmen in kleinen Mengen als Zugabe zu pflanzenbasierter Kost) hat evtl. einen kleineren ökologischen und "ethischen" Fußabdruck als ein Hipster-Veganer, der hedonistischem Statuskonsum frönt.
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