Effektiver Altruismus (EA)

Bücher, Links, eBooks, Artikel
.u.
wieder ohne
Beiträge: 6864
Registriert: 23.07.2011
Wohnort: Sachsen

Beitrag von .u. » 28. Jul 2017 21:51

Hi hareigev,

ich weiß jetzt ein bisschen, wovon du reden könntest. Offenbar hatten sie vor einiger Zeit noch einen etwas aggressiveren Diskussionsstil und nun die Strategie geändert... hab den Link grad nicht mehr.

Kürzlich hatte ich aber den Eindruck, dass die EA-Bewegung sektenähnliche Züge annimmt und weiß nicht recht, wie ich das finden soll (davon abgesehen, dass es irre faszinierend zu beobachten ist). Wieso sektenartig: Zunächst hat mich aus dem Bauch heraus die Art, wie sie mit Neumitgliedern reden, an Sekten erinnert; außerdem hat eine Mitglied im Gespräch letztens eine "Pflicht zu spenden" formuliert im Sinne einer für sich stehenden Pflicht, was es in meinen Augen genauso wenig wie einen für sich stehenden Sinn gibt - ohne Gott oder Dogma jedenfalls; Missonierung natürlich, aber darüber kann man streiten; und die EA-Ideologie dringt mittlerweile in privateste Lebensbereiche ein, z.B. wie man effektiv Schläft oder sich psychisch leistungsfähig hält. Das macht mir Bauchgrummeln, weil ich natürlich sozial legitimiert frei sein möchte. Ich habe keine Lust, mich zu optimieren, nachdem es noch nicht mal meine Entscheidung war, überhaupt zu existieren. Gurus gibt es noch nicht, aber die Gründer schreiben schon ziemlich philosophische Texte und geben ein bisschen den Dresscode vor, aber das diversifiziert sich glaube grad wieder...
Trotzdem werde ich noch ein bisschen weiter dabei bleiben, da mir meine Werte ja klar sind. Momentan hab ich das Ziel, später mit Kenntnissen aus dem Studium für Evaluationen von GiveWell mitzuarbeiten...
Und je mehr Mitstreiter es gibt, desto mehr wird vllt. auch die Meinungsvielfalt ansteigen.
...But the stars we could reach were just starfish on the beach.

Benutzeravatar
Goldzwerg
Beiträge: 26
Registriert: 03.10.2023

Beitrag von Goldzwerg » 5. Okt 2023 23:04

Ich kannte den Effektiven Altruismus schon länger, habe Singers grundlegendes Buch aber niemals gelesen. Somit können meine Überlegungen dazu vielleicht nicht tief genug in die Materie eindringen bzw. setze ich mich der Gefahr aus, das Ganze misszuverstehen.
Dennoch kamen mir zwei grundlegende kritische Gedanken dazu, die ich stichpunktartig wiedergeben will:

1. EAs gehen von der Grundanschauung aus der gleichen Wertigkeit aller Menschen, aus denen sich eine absolut gleiche moralische Behandlung derselben ergibt.
Doch was ist mit Psychopathen?
Eine gleiche Wertigkeit aller Menschen setzt doch eine gleiche moralische Wertigkeit voraus, die aber ihrerseits die Voraussetzung hat, dass alle Subjekte ihrerseits wiederum dasselbe Empfinden für die moralische Wertigkeit der anderen haben.
Für echte (essentielle, also geborene) Psychopathen aber haben andere Menschen keinen Wert. Höchstens einen Nutzen oder Nachteil für die eigene Existenz. Auch für sekundäre Psychopathen (maligne Narzissten, Soziopathen usw.) haben andere Menschen keinen oder aber einen höchst unterschiedlichen Wert.
Der EA ist wohl schon ein ehrenswerter Versuch, auf der Basis des edlen Glaubens an die grundsätzliche Gleichwertigkeit der Menschen unabhängig von Unterschieden der Intelligenz, Schönheit, Stärke, Abstammung oder sozialen Stellung, ein pragmatisches Moralsystem zu schaffen, dass interkulturell und interreligiös grundsätzlich auf die gesamte Menschheit anwendbar ist und somit ernsthafte Beiträge zu einer realen Verbesserung der Welt zu liefern bemüht ist. Das Problem bei solchen theoretischen Moralsystemen ist aber das Ausgehen vom abstrakten Begriff „des Menschen“ als immer gleichem moralischem Subjekt. Unabhängig davon, dass schon die normalen, nichtpsychopathischen Menschen höchst ungleich in Charakter und Wesen sind, wird durch die Tatsache der Existenz von Psychopathen ein völliges Ungleichgewicht in eine durch EA gestützte Gesellschaftsordnung gebracht werden: Denn Psychopathen werden immer in der Lage sein, selbst die größten Verbrechen, die sie begehen, geschickt zu verschleiern, eigene Schuld auf andere abzuwälzen und sich selbst durch Propaganda bzw. „Influencing“ als die allergrößten Altruisten darzustellen. Das gilt natürlich nicht nur für den EA, sondern auch für alle bereits bestehenden Moralsysteme und Rechtsformen. Der EA ist hier nicht schlechter als das Bisherige, bringt aber eben auch keine Lösung dieser Problematik.

2. Der EA entspricht nicht der psychologischen Struktur des menschlichen Gemüts. Dasselbe theoretische Problem wie beim Marxismus, dessen behauptetes Endziel, die Aufhebung sozialer Unterschiede in der klassenlosen Gesellschaft, dem „Kommunismus“ , ja nur dauerhaft erreicht werden kann, wenn man das menschliche Streben nach Erfolg und Einfluss ausschaltet. Da dieses aber im Menschen liegt und bei den einen stärker, bei anderen schwächer ausgeprägt und bei den einen mit mehr intellektuellen und anderen Fähigkeiten kombiniert auftritt als bei anderen, so werden sich in jeder Gesellschaft immer wieder notwendig Unterschiede ergeben müssen. Eine solche aufkeimende Ungleichheit müsste sofort von der starken Hand staatlicher Regulierung gestoppt werden. Das haben die „Parteien“ in den marxistischen Staaten auch getan und das nicht selten mittels Verfolgungen bis hin zum Mord – also den grässlichsten Formen von Ungerechtigkeit, die es überhaupt geben kann. –
Das Problem hat auch der EA in Bezug auf das Spendenproblem: Fast jeder nichtpsychopathische Mensch würde, sofern keine Gefahren für sein eigenes Leben oder andere gravierende Nachteile in Bezug auf die eigene Unversehrtheit bestehen, einem in Lebensgefahr schwebenden Menschen, den er direkt sieht, helfen (z. B. einen gerade im See Ertrinkenden). Leute, die sogar ihr eigenes Leben riskieren, um andere zu retten, nennt man Helden. Doch von demselben hohen Prozentsatz an Menschen, die in solchen Situationen der persönlichen Anwesenheit helfen würden, ist es immer nur ein sehr geringer Bruchteil, der Leidenden in der Dritten Welt etwas spendet, da sich hier dieses Leiden nicht persönlich in die Seele brennt, sondern gewissermaßen nur abstraktes Wissen ist. Was der Mensch nicht direkt vor sich sieht oder jemals gesehen hat, berührt seine Seele weitaus weniger. Wenn der eigene Hund von einem Auto angefahren wird und, schwer verwundet, um sein Leben ringt, so trifft das wohl jeden Menschen weitaus mehr als wenn er in den Nachrichten hört, dass ein Tsunami in Indonesien Tausende Menschen verschlungen hat – aus Sicht des EA ist unsere affektive Reagibilität, also die Art und Weise, wie wir emotional auf etwas reagieren, von Natur aus völlig falsch, unlogisch, ungerecht bzw. „ineffektiv“ strukturiert. Wenn wir Bilder im Fernsehen sehen, kann durch diese zwar etwas nachgeholfen werden, doch bei den meisten sind diese auch relativ rasch wieder vergessen und führen jedenfalls niemals zu der Menge an Geldspenden, die in einem objektiv richtigen Verhältnis zu dem Geld stehen, das er aufgewandt hatte, um das Leben seines verletzten Hundes zu retten.
Ich könnte hier noch einige weitere Probleme des EA skizzieren, von denen die meisten sich aber ganz gut auch auf die bereits skizzierten beiden zurückführen lassen. Aus meiner Sicht bleiben solche das Wesen sowohl „des“ als auch „der“ Menschen übersehenden, also unpsychologischen, rein utilitaristischen oder rationalistischen Moralphilosophien stets an der Oberfläche und sind nicht wirklich geeignet, das Elend der Welt nachhaltig zu lindern. Eine tiefer gedachte Moralphilosophie muss bei einer eingehenden Untersuchung über die Psychologie „des“, vor allem aber „der“ Menschen in ihrer riesigen seelischen Vielfalt ansetzen, bevor sie sich darin versucht, allgemeine Leitsätze für sittliches Handeln zu liefern.

Antworten