Konstruktivismus

Plausch & Palaver
Sphinkter
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Konstruktivismus

Beitrag von Sphinkter » 11. Jan 2021 09:42

Beschäftigt sich hier eigentlich jemand mit dem Konstruktivismus?
Ich finde das ein sehr spannendes Konzept.
Der Konstruktivismus sagt grob, dass es keine objektive Wahrheit gibt.
Der Radikale Konstruktivismus bestreitet gar die menschliche Fähigkeit, objektive Realität zu erkennen, da jeder Einzelne sich seine Wirklichkeit im eigenen Kopf „konstruiert“.
Ich finde das eine spannende Sachen, Wahrheiten in Frage zu stellen, da 99% davon wahrscheinlich eher Konsens-Wahrheiten sind (von einer Gesellschaft festgelegt).
Vor allem aber auch, wie Sprache auch Möglichkeiten einschränken kann und subjektive "Wirklichkeiten" schafft.

Nun frage ich mich aber auch, wie Erkenntnisse der z.B. harten Wissenschaften dort einzusortieren sind.
z.B. in der Physik die Erdanziehung. Die Gravitation stellt ja eine Gesetzmäßigkeit dar die immer gilt, also eine objektive Wahrheiten.
Oder Erkenntnisse aus Randomisiert-kontrollierten Studien. Da wird es schon schwerer. Sind das objektive Wahrheiten? Man kann sie in Metastudien reproduzieren, aber gilt nicht für alle Menschen.
Wie sind objektive Wahrheiten (z.B. Biologie - Anatomie oder Physik - Gravitation) im Konstruktivismus einzuordnen :kk:

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Akayi
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Beitrag von Akayi » 11. Jan 2021 10:13

Meiner Ansicht nach besitzt Konstruktivismus hin- und wieder Erklärkraft, wenn man sich vor Augen führt dass viele vermeintlich objektive, naturgegebene Dinge tatsächlich sozial konstruiert und damit (und das ist der springende Punkt) durch menschliches Handeln veränderbar sind. Das bezieht sich aber freilich auf Dinge wie Ungleichheit, Verteilung etc. und nicht auf die Schwerkraft.
recherchiert, was rechtlich so möglich ist

Sphinkter
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Beitrag von Sphinkter » 11. Jan 2021 10:58

Also keine universelle Philosophie...ich frage mich nur, wo man die Grenze zieht. Was ist eine objektive Wahrheit, was subjektiv konstruiert?
Wenn ich den Konstruktivismus richtig verstehe, stellt er aber alle Wahrheiten in Frage.
So richtig habe ich es nicht verstanden. Aber in etwa...man kann etwas messen und in Versuchen nachbauen, ob dies aber eine Wahrheit darstellt, könne man nicht sagen. Da es nur eine Aussage eines Menschen ist
Das verstehe ich definitiv nicht.
Mir fällt ein Beispiel mit einem Läufer ein, der mit verbundenen Augen einen Weg durch den Wald zum Ziel findet. Nun kann man sagen, dass dies ein Weg durch den Wald ist. Ob dies der einzige, beste Weg und unter allen Bedingungen und er immer besteht, also die objektive Wahrheit ist, kann man nicht sagen.
So in etwas habe ich es verstande, wirft trotzdem Fragen auf....

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Akayi
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Beitrag von Akayi » 11. Jan 2021 12:17

Ich denke es stellt einfach ein Hilfsmittel dar um zu verstehen wie Erkenntnisse gewonnen werden und um diese auch zu hinterfragen. Ich persönlich habe mich mit Konstruktivismus allerdings nur als Theorie der Internationalen Beziehungen beschäftigt.
recherchiert, was rechtlich so möglich ist

shroud
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Beitrag von shroud » 11. Jan 2021 14:37

Ich bin auch kein Experte. Soweit ich das weiß, werden im naturwissenschaftlichen Bereich v.a. Strategien der Darstellung hinterfragt. Also z.B. über welche Metaphern oder Abbildungen, Schemata, Diagramme etc. wird auch Mint-Forschung medial vermittelt und kommuniziert.
Wissen gilt dann vornehmlich als konsensuale Verabredung, nachdem sich Erkenntnisse funktional effektiv erwiesen haben. Ob es dann überhaupt objektive Gewissheiten gibt, dürfte nach Radikalität des Ansatzes variieren. Wahrscheinlich gilt dann sämtliches menschliches Wissen als Verabredung, die doch trotz überprüfter Praktikabilität theoretisch kein unumstößliches universelles Gesetz darstellt.

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Bl@ck_C@t
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Beitrag von Bl@ck_C@t » 11. Jan 2021 21:16

Also meines Wissens nach ist der Konstruktivismus eine der Strömung der Philosophie des 20. Jh., die sich mit dem tlw fatalen Erbe des Positivismus auseinandergesetzt haben. Der Positivismus ging eben davon aus, dass es eine objektive Wahrheit gibt und diese durch die Wissenschaften erforscht werden könnte. Er nahm auch an, dass die Wissenschaften die Realität ohne weiteres Rekonstruieren können. Dem Positivismus und noch mehr der Aufklärung, aus der er entstanden ist, verdanken wir den immer noch sehr weit verbreiteten Fortschrittsglauben, die Annahme, neue Technologien wären ohne sozialen Wandel Antworten auf gesellschaftliche Fragen, und krude Theorien und Praktiken wie den "historischen Materialismus", Euthanasie und "Sozialdarwinismus".
Da eben Theorien und Praktiken, wie die oben genannten, am Anfang des 20. Jh. verheerende Folgen hatten, beschäftigte sich die Philosophie des 20. Jh. u.a. damit, ob es für uns Menschen überhaupt möglich ist, objektiv zu sein und objektive Aussagen zu treffen. Und die zusammengenommene Antwort von Strömungen wie der Kritischen Theorie, des (Post)Strukturalismus und eben des Konstruktivismus ist: Nein, sind wir nicht. Alle unsere Wahrnehmungen und Aussagen sind subjektiv, allerdings ist es uns möglich Intersubjektivität herzustellen. Das bedeutet, dass wir uns untereinander auf gängige Konstruktionen einigen. Im Alltag und allgemein finden intersubjektive Prozesse meist beiläufig statt, bspw. erfindet jemand ein Wort für irgendetwas, es verbreitet sich in seinem Umfeld, mit etwas Glück landet es irgendwann im Duden und ist dann offiziell Teil unserer Sprache. In den Wissenschaften werden diese Konstruktionen, ich sag mal, künstlich vorgenommen und sie müssen gewissen Standards entsprechen. So müssen Aussagen der Wissenschaft überprüfbar, weitestgehend unabhängig vom Forscher und plausibel sein. Durch das Verwerfen einer objektiven Wahrheit ergibt sich auch, dass die Wissenschaften nicht mehr versuchen, die Realität abzubilden (Rekonstruieren), sondern anhand von Wahrscheinlichkeiten zu untersuchen. So ist es zwar höchst wahrscheinlich, dass morgen die Sonne aufgeht, aber es besteht auch immer die Möglichkeit, dass dem nicht so ist.
Wie schon in den Post zuvor angesprochen wurde, erscheint der Konstruktivismus im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften angebracht, aber er ist auch für die Naturwissenschaften fundamental. Erster Hinweis dafür ist, dass wichtige Vertreter desselben Naturwissenschaftler waren/sind und auch einige Impulse für ihn aus der Naturwissenschaft stammen. Des Weiteren ist die angesprochene Gravitation bzw. Schwerkraft ein super Beispiel für ein Konstrukt der Naturwissenschaft. Als Gravitation bezeichnen Physiker*innen das oft beobachtete Phänomen, dass Masse sich wohl gegenseitig anzieht und dass sich diese Anziehungskraft mit der Masse eines Körpers steigert. Bis heute hat die Physik es aber nicht geschafft, die Gravitation in die Quantenphysik zu integrieren, was dazu führt, dass Einsteins spezielle und allgemeine Relativitätstheorie nur für Körper mit einer gewissen Masse gilt. Also selbst wenn die Physik es irgendwann schafft, eine "Theorie von allem" bzw. eine "Weltformel" zu entwickeln, bleibt dies ein Konstrukt innerhalb des auch konstruierten Systems Physik, um die Welt beschreibbar zu machen.
Wie ich versucht habe zu zeigen und was in der heutigen Wissenschaft grundlegend ist, ist, dass es keine Objektivität gibt, wir aber intersubjektiv Dinge konstruieren müssen, um uns verständigen zu können. Gedanken wie, die des Konstruktivismus, waren und sind für jede Form der Wissenschaft wichtig, weil sie darauf hinweisen, dass wissenschaftliche Aussagen immer nur Annahmen und keine Wahrheiten darstellen. Die Wirklichkeit ist einfach zu komplex, um von uns beschränkten und in ihr gefangenen Wesen rekonstruiert zu werden.

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Beitrag von Kim Sun Woo » 11. Jan 2021 22:36

Sphinkter hat geschrieben:
11. Jan 2021 09:42
Der Konstruktivismus sagt grob, dass es keine objektive Wahrheit gibt.
das ist, so wie ich es verstanden habe (und je nachdem von welcher Strömung wir reden), nicht ganz richtig. sondern die Kernthese, daß es keine (gänzlich) für den Menschen erfaßbar, "objektive Realität" gäbe ("Realität" ist in diesem Zusammenhang ≠ "Wahrheit").

"Realität" wäre demzufolge immer bestimmt durch die individuellen Eigenschaften (und wenn man so will, "Filter") der Empfänger*Innen.

es meines Wissens eine eher theoretische Frage, die sich kaum auf tatsächliche Lebenspraxis anwenden läßt (die Vorstellung, wir leben alle in unser "eigenen Realität" ist natürlich gewissermaßen einerseits richtig, schließt aber typischerweise naturwissenschaftliche Phänomene aus, da deren "persönliche Wahrnehmung" nicht von der "allgemeinen Wahrnehmung" abweicht)
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Beitrag von Sabotagehase » 11. Jan 2021 23:01

Ist jetzt die Frage ob du Lebenspraxis von Wissenschaft z.B. trennen würdest. In meinem Studium hab ich mit solchen Konzepten dauernd zu tun. Und da ich iwie mittlerweile ne gewisse "Brille" habe, was den Themenkomplex angeht, sehe ich dauernd überall Aussagen/Annahmen die eben genau das Problem haben, dass sich die Akteure die Aussagen treffen nicht dessen bewusst sind, wie konstruiert ihre sog. "Wahrheit" doch so ist.
Wobei da dann für das Alltagsleben eine Unterscheidung zwischen Subjektiv und Intersubjektiv auch reichen würde. Mir tut nur manchmal wirklich physisch weh, wen die Leute dann Intersubjektivität mit Objektivität gleichsetzen.

Auch eine Praxisanwendung: hinterfragen Wissenschaftlicher Theorien. Viele Wissenschaftliche Theorien wurden noch unter Positivistischen Gesichtspunkten aufgestellt. Diese Grundproblematik mag auf den Ersten Blick erstmal nebensächlich zu sein, allerdings wirkt sich z.B. das technokratische Bewusstsein was oftmals daraus resultiert nicht wirklich gut auf die Theorien aus. Aus besagten Theorien können dann z.B. politische Handlungskonzepte erwachsen (ökonomischer/planerischer/entwicklungstechnischer Art).
In der Konsequenz werden dann die "veralteten" Wissenschaftstheorien auf irgendwelche gesellschaftlichen Problemfelder angewandt und können ziemlich Schaden anrichten. Und da wie wir ja mittlerweile wissen sollten Politik gerne mal etwas langsamer ist (oder unwillig) halte ich das für Problematisch.

Dh: nur weil der Themenkomplex einem vlt jetzt beim Einkaufen oder beim Abwiegen irgendeiner Backzutat nicht wirklich hilft, heißt es nicht, dass er durch irgendeine Wissenschaftsperson, die eine politiktreibende Person gut oder schlecht berät nicht doch am Ende praktische Relevanz hätte.

Beziehe mich da jetzt aber wirklich nur auf die Konsequenz des Konstruktivismus als Denkrichtung.

@Kim wieso sollte es naturwissenschaftliche Phänomene ausschließen? Oder ist diese Aussage rein Lebenspraktisch gemeint? (Wobei sofern man sowas wie Wahrnehmung, z.B. Lautstärke naturwissenschaftlich auffassen würde auch das insich angreifbar wäre)

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Kim Sun Woo
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Beitrag von Kim Sun Woo » 12. Jan 2021 00:57

das meinte ich ja (glaube, wir meinen dasselbe). auf das angeführte Beispiel der Erdanzug heißt das bspw., daß alle (oder nur die meisten?) Menschen diese als gleich empfinden.

natürlich gibt es auch dafür Ausnahmen, die scheinen mir aber doch alle er durch Krankheiten/Mangelfunktionen eines Körpers bedingt (so halte ich es für naheliegend, daß die Realitätswahrnehmung eines Blinden eine gänzlich andere ist als die von Menschen mit Sehfähigkeit).
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Beitrag von Sabotagehase » 12. Jan 2021 01:21

naja aber selbst wenn ausnahmslos ALLE Menschen sich einig wären, dass die Gravitation so funktioniert wie sie es eben nach physikalischen Gesetzmäßigkeiten tun sollte, sagt das noch nicht wirklich was über die Richtigkeit dieser Gesetzmäßigkeiten aus. Innerhalb des Systems können wir vlt. sagen, das ist so, und Menschen die das anders empfinden sind gewissermaßen "defekt", aber über den grundsätzlichen Wahrheitsgehalt in physikalischen Gesetzmäßigkeiten wird niemals jemand unabhängig von der Individuellen Wahrnehmung (und wenn auch die Wahrnehmung aller wahrnehmungsfähigen Individuen identisch wäre) eine Aussage treffen können.
Aber meistens reicht es halt, dass es innerhalb des Systems stimmig ist, weil rauskommen tut man ja sowieso nicht.

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