Deutsche Bürokratie, Böhmische Dörfer & Gatekeeping

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illith
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Deutsche Bürokratie, Böhmische Dörfer & Gatekeeping

Beitrag von illith » 17. Mär 2021 01:03

mein Bruder war vorhin hier und hatte einen frischen Brief vom Arbeitsamt dabei.
er hat vor 3 Jahren mal zwischen zwei Jobs wenige Wochen ALG1 bezogen.
weder mein Bruder noch ich sind irgendwie besonders auf den Kopf gefallen - und ich würde von mir sagen, dass ich über einen guten Wortschatz verfüge und da ich Latein hatte, kann ich auch oft Fremdwörter, die ich nicht kenne, irgendwie für mich herleiten.
bei diesem Brief, anderthalb Seiten, hatte wir beide auch nach mehrmaligem Lesen keinen Schimmer, was die von ihm wollten. also auch nicht, was die Handlungsaufforderung ist oder ob er jetzt was bekommt oder was bezahlen muss oder irgendwas.
der fettgedruckte Betreff war bereits völlig unverständlich und die nachfolgenden Erklärung, ging mit einem vierzeiligen Absatz los, der aus einem einzigen verschachtelten Satz bestand.
nachdem ich das Schlüsselwort gegoogelt hab, "Progressionsvorbehalt", waren wir immer noch nicht wirklich schlauer, außer dass sich unsere Vermutung verfestigte, dass es irgendwas mit der Steuererklärung zu tun hat.

die Frage die sich für uns daraus ergab:
WHY.
WER hat was davon, dass Anträge, Formulare etc. pp. einfach so maximal unverständlich gestaltet sind?
ich kenn es ja auch von der Arbeit, wenn ich irgendwelche BAföG-Anträge für Schutzbefohlene ausfüllen muss oder Reha-Anträge für BF oder meine Steuererklärung. da komm ich meistens nicht ohne ohne Google und Verwünschungen aus. und ich hab studiert. Leute mit geringerem 'intelektuellen Bildungsstand' (nicht abwertend gemeint) sind da doch erst recht komplett aufgeschmissen.

wir haben über verschiedene Theorien sinniert, wie sowas wohl zustande kommt. aber zu einem überzeugenden Schluss sind wir nicht gekommen.
unterm Strich dürfte das doch nur für deutlich mehr Aufwand, Arbeit und somit Kosten sorgen - und zwar auf der Seite von der Zettelage-ausgebenden Partei!

hat jemand eine plausible Erklärung?^^
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Akayi
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Beitrag von Akayi » 17. Mär 2021 08:17

Meine Erklärung wäre Rechtssicherheit. Es geht ja nicht unbedingt darum dass wir die verstehen sondern dass wir, wenn wir sie ausfüllen unser Ansprüche oder eben Nicht-Ansprüche eindeutig dokumentieren. Wenn ich damit nicht zurecht komme ist das mein Problem oder dass von den Stellen die mir dabei helfen. Für die andere Seite könnte es einfach zu Kostenersparnis führen wenn ich es nicht gebacken kriege meine Ansprüche geltend zu machen.
recherchiert, was rechtlich so möglich ist

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Curumo
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Beitrag von Curumo » 17. Mär 2021 13:04

Akayi war da schon auf dem richtigen Riecher. Kurzgesagt: Aus Formalismus (verpflichtende 10 Bestandteile eines Verwaltungsaktes und nahezu jedes offizielle Schreiben ist ein Verwaltungsakt) bzw. zur rechtlichen Absicherung (auf Amtsseite versteht sich^^). Und dann ist da sicher auch noch ein gewisser Rest klein bzw. bildungsbürgerlichem Beamten/Staatsdienerdünkel geschuldet.

https://www.ksta.de/ratlos-vor-dem-brie ... 5982313033
Aber warum schreiben die denn so? Weil es ihnen jahrelang so beigebracht wurde. An der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und diversen anderen Bildungseinrichtungen für angehende Beamte wird „Bescheidtechnik“ gelehrt. Junge Leute lernen, wie sie ein amtliches Schreiben zu formulieren haben. Nämlich so, dass es auch vor Verwaltungsgerichten Bestand hat. Ob Herr Hinz und Frau Kunz trotz Hauptschulabschlusses den Inhalt noch verstehen, war offenbar lange Zeit zweitrangig.
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Lovis
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Beitrag von Lovis » 17. Mär 2021 13:28

... und ist es noch immer! :O

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somebody
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Beitrag von somebody » 17. Mär 2021 23:03

Die Intention Rechtssicherheit hätte ich ebenfalls vermutet. Ergänzend persönliche Absicherung.

Dass NichtFachmenschen fachlich überfordert werden, ist aus Behördenperspektive IMO historisch akzeptierte, heute gewünschte Begleiterscheinung.
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