Gesellschaftlicher Impact von Filmen & Kunst an sich

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Shub-Niggurath
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Beitrag von Shub-Niggurath » 19. Jan 2020 02:17

vegabunt hat geschrieben:
18. Jan 2020 10:51
Kim Sun Woo hat geschrieben:
18. Jan 2020 07:47
(insofern ist es doch eigentlich "wünschenswert", wenn ein möglichst breites Publikum seine Filme ansieht).
Allein für das Geschichtsverständnis scheinen mir Tarantinos Werke nicht die beste Wahl zu sein.
Seine Filme sind mir viel zu oft mit der opulenten Darstellung von Brutalität verbunden, was scheinbar nicht nur ihm überaus gefällt und heute als "normale Unterhaltung" gilt, wie mir immer wieder versichert wird. Die Drehbücher sind mitunter genau so gestaltet, dass sie mit voller Absicht auf diese bestialischen Gewalt-Orgien hinauslaufen.

Sowas finde ich abstossend und halte es für die Psyche für äusserst ungesund; unser Gehirn reagiert nachweislich auf solche Filme, als ob es die Realität sei. Bei stetig steigendem Konsum stumpft man zwangsläufig ab, nicht selten entsteht dadurch das Verlangen nach noch mehr dargestellter Brutalität. Ich kann daher nur schwerlich nachvollziehen, wie man an sowas Freude oder sogar Lust entwickeln kann, ist aber vermutlich auch eine Generationenfrage.

Gleichwohl verurteile ich nicht das Publikum, das sich solche Unmenschlichkeiten gerne ansieht, ich sehe sie eher als die Leidtragenden oder gar unbewusst Geschädigten an, obwohl da natürlich die meisten vehement widersprechen.
Du sitzt im völlig falschen Sessel, wenn du von einem Film Tarantinos "Geschichtsverständnis" erwartest. Dessen Werke speisen sich aus einer Filmtradition, die in den Bahnhofs- und Nischenkinos zuhause war, bis der Siegeszug der VHS eine breitere Rezeption von Filmen abseits des Mainstreams massentauglich machte. Nicht umsonst verweist er immer wieder auf seine Ursprünge als Videothekar. Seine Filme spielen mit Versatzstücken des "unterschlagenen Kinos", der in Deutschland gerne durch die BPjM zensierten Filmkunst des Abseitigen, Außergewöhnlichen - und ja! - Brutalen. Genrefilme, auch gerne aus dem B- und C-Bereich, sowie internationales Kino abseits der ausgetretenen Pfade, bilden ein Reservoir von stilistischen Vorbildern, deren er sich ausgiebig bedient und die er nach eigenem Ermessen kombiniert, verfeinert oder in die Gegenwart verlängert. Das etwas geistlose Verlangen des durchschnittlichen Kinogängers nach naturalistischem Abbild der wahrgenommenen Lebenswelt bedient er gerade so weit, wie es ihm nötig scheint, um das größere Publikum nicht auszuschließen. Soll heißen: Er interessiert sich nicht für ein exaktes Abbild der vermeintlichen Wirklichkeit, sondern präsentiert seine Sicht auf die Dinge, gefiltert durch die oben erwähnten filmischen Vorbilder und Einflüsse. Als Künstler nimmt er dann die Änderungen vor, die ihm vorschweben und entgegenkommen. Film ist Kunst und keine Abbildung der vermeintlichen Realität, auch wenn weniger talentierte Regisseure gerne so tun.
Was die Darstellung von Gewalt auf der Leinwand (und in anderen Medien) betrifft, gibt es keine Forschungsergebnisse, die einen Schluss auf etwaige positive oder negative Folgen zulassen. Die Katharsis ist ebenso umstritten wie die Begünstigung von Gewaltausbrüchen. Müsste man die Gewalt im Kino eines Quentin Tarantino nach deiner Einschätzung nicht durch positive Szenen in anderen Filmen ausbügeln können? Wieviele löbliche und genehme Filme muss ich sehen, um mich der schwarzen Umarmung dieser "bestialischen Gewalt-Orgien" entreißen zu können?
Zumal Tarantinos Gewaltlevel schon relativ hoch (im Vergleich zu der familienfreundlichen (sprich: Kinder-) Scheiße, die seit Jahren die Kinos verpestet) scheint, aber eben durch den Zitatcharakter, Ironisierungen und Stilisierungen extrem abgemildert wird. Solltest du etwas wirklich Abstoßendes suchen, wende dich vertrauensvoll an mich. Ich habe sie alle gesehen.
Zuletzt geändert von Shub-Niggurath am 19. Jan 2020 02:21, insgesamt 2-mal geändert.
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vegabunt
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Beitrag von vegabunt » 19. Jan 2020 11:25

Shub-Niggurath hat geschrieben:
19. Jan 2020 02:17
Du sitzt im völlig falschen Sessel, wenn du von einem Film Tarantinos "Geschichtsverständnis" erwartest.
Richtig, das war auch nie meine Erwartung, ich antwortete nur auf Kims Aussage. ;-)
Shub-Niggurath hat geschrieben:
19. Jan 2020 02:17
Was die Darstellung von Gewalt auf der Leinwand (und in anderen Medien) betrifft, gibt es keine Forschungsergebnisse, die einen Schluss auf etwaige positive oder negative Folgen zulassen.

Sieh dir die heutige Welt an, die zunehmende Verrohung ist mir Beweis genug. Wir sind zudem gesellschaftlich schon längst selbstzerstörerisch unterwegs und verehren mit recht ungelenken Ausreden herzlos das ganze absurderweise auch noch als Kunstform.
(Ähnlichkeiten sehe ich an der Lust am übermässigen Fleischessen, ohne sich dessen bewusst zu sein/ werden, was man damit anrichtet. Ist ebenfalls ein weiterer Ausdruck unserer heutigen Normopathie.)

Es geht auch nicht um Gewaltdarstellung an und für sich, sondern um die Lust an der Brutalität, die da vor- und ausgelebt wird, das ist für mich ein entscheidender Unterschied. Eine Abstumpfung bei regelmässigem Konsum wurde indes bereits nachgewiesen.
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3190206/

Überdies ist mir aufgefallen, dass mit den heutigen Möglichkeiten die realitätsnahe Darstellung von Brutalität in den letzten Jahrzehnten für mein Dafürhalten enorm zugenommen hat.

Es muss natürlich jeder selber wissen, ob und was ihm auf seinem Weg gut tut. Sicher kann man all das ignorieren und es wird die allermeisten nicht per se zu schlechteren Menschen machen. Für die Entwicklung hin zu einem achtsameren, die Gewalt ablehnenden und die Liebe befürwortenden Menschen sehe ich den regelmässigen Konsum solcher Werke jedoch nicht als förderlich an.

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Shub-Niggurath
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Beitrag von Shub-Niggurath » 19. Jan 2020 21:42

Sieh dir die gestrige Welt an, ganz ohne den Einfluss von "Killerspielen", Horrorvideos und Gangsta Rap sind junge Menschen fröhlich in europäische Nachbarländer einmarschiert, um zu rauben und zu völkermorden. Die Verrohung ist eine behauptete. Kriminalität nimmt ab und Kriege gab es in Zentraleuropa in den letzten Jahrzehnten auch keine mehr.
Dein nächster Satz lässt mich dann begreifen, worum es hier wirklich geht: Nicht genehme Kunstwerke sollen diskreditiert werden, um sich ihrer möglichst einfach entledigen zu können. Doch - surprise, surprise! - Kunst beugt sich nicht den Ideologien gesellschaftlicher Gruppen. Und die, die es tut, nennt man für gewöhnlich Unterhaltung und ist wack wie Gott im Himmel.
Ich weiß nicht, wer zuerst auf den Trichter kam, dass sich Kunst für eine "positive" und "progressive" Entwicklung der Menschheit einsetzen muss, aber diese Stimmen werden zunehmend lauter. Und sie sind so laut, weil sie besonders dumm sind. Jeder, der glaubt, er könne durch einen Kinofilm die Welt verändern (ob nun zum Guten oder Schlechten), ist einfach ein Narr, ein zurückgebliebener Trottel.
Gehen wir mal davon aus, dein Link wäre die Speerspitze der Forschung und vollkommen im Recht, ohne Zweifel oder Gegenstudien. Was wäre so schlimm an einer Abstumpfung gegenüber Gewaltdarstellung in der Kunst? Im schlimmsten Falle verliere ich das Interesse, im besten lege ich eine Pause ein und widme mich anderen Dingen, bis der "Appetit" zurückkehrt. Das wäre dann eher ein Problem der Kinoverleiher, die mit schwindenden Besucherzahlen zu kämpfen hätten.
Im Westen der Welt hat sich ab den 1960ern tatsächlich eine explizitere Gewaltdarstellung im Kino durchgesetzt, ein Nebeneffekt der gesamtgesellschaftlichen Befreiung von Dogmen und Moral der Unterdrücker und Ausbeuter. Umso lustiger (oder trauriger), dass das Pendel nun zurückschwingen soll, unter größtem Einsatz von Gruppen, die sich als "progressiv" verstehen.
Ich bin ein schlechter Mensch: Dein letzter Absatz ist schlicht Pfaffengeschwätz.
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Beitrag von Kim Sun Woo » 19. Jan 2020 21:47

Shub-Niggurath hat geschrieben:
19. Jan 2020 21:42
Jeder, der glaubt, er könne durch einen Kinofilm die Welt verändern (ob nun zum Guten oder Schlechten), ist einfach ein Narr, ein zurückgebliebener Trottel.
war bis zu diesem Satz weitestgehend bei dir. aber das (quasi das Gegenteil der vorherigen Annahme) stimmt meines Erachtens auch nicht (Kunst jegliche Außenwirkung abzusprechen halte ich auch für unrealistisch).
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Beitrag von Shub-Niggurath » 19. Jan 2020 21:48

Wenn dem so wäre, müsste man nur den richtigen Film für die eigenen Zwecke drehen und alles würde sich zu eigenen Gunsten einrenken. Ist Quark, merkste selbst, oder?
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Beitrag von Kim Sun Woo » 19. Jan 2020 21:57

erstmal klingt mir das schon wieder zu sehr nach dieser "entweder/oder" Logik: also entweder ein Film kann dich problemlos gezielt in eine Richtung beeinflussen - oder er kann dich unter keinen Umständen und und in keinster Weise beeinflussen. halte ich beides für unzutreffend.

(und eigentlich macht es doch auch nach deinem eigenen Kunstverständnis keinen wirklich Sinn, oder? Kunst die grundsätzlich nichts bei EmpfängerInnen auslöst bzw. etwas mit diesen macht (wohlgemerkt: bei niemandem) wäre dann demzufolge doch eher "schlechte Kunst"?)
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Beitrag von Kim Sun Woo » 19. Jan 2020 22:00

die Huhn/Ei Frage ist bei Kunst auch immer schwierig zu beantworten: die Mehrzahl aller geschriebenen Romane "befürwortet" hinsichtlich vieler/der meisten Fragen den gesellschaftlichen "Status Quo".

inwieweit es nun auch "faktisch" zur Erhaltung von besagtem "Status Quo" beiträgt (oder ob die Beeinflussung immer nur in einer Richtung - also Kunst als schiere Reaktion auf Gesellschaft - funktioniert), dürfte sich aber kaum klären lassen.
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Beitrag von Shub-Niggurath » 19. Jan 2020 22:03

@Kim Sun Woo: Sogar in der Generation, die sich selbst ausgiebig mit Kunst therapiert hat, den 68ern, schnitt man sich irgendwann die Haare, verriet seine Ideale, machte Karriere und wurde wie seine Eltern. Und ja: Ich spreche Kunst ab, gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen zu können, gerade weil sie in der Wahrnehmung des Einzelnen lebt und gedeiht. Geh doch z.B. mal auf ein Konzert deiner Lieblingsband und teste aus, wie alleine du dich unter all den Leuten fühlst, die angeblich auch diese Band lieben. :mg:
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Beitrag von Kim Sun Woo » 19. Jan 2020 22:11

dieses "Argument" funktioniert doch aber auch andersherum: geh mal zum Konzert der lokalen diy punk band und frage die Anwesenden ob und wenn ja wieviel mehr sie glauben miteinander als den allermeisten Menschen gemeinsam zu haben.
Zuletzt geändert von Kim Sun Woo am 19. Jan 2020 22:14, insgesamt 2-mal geändert.
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Beitrag von Shub-Niggurath » 19. Jan 2020 22:13

Und am Ende rasieren sie sich den Iro ab und machen eine Ausbildung. Und die drei Gestalten, die es ernst meinen, machen das eben mit sich selbst aus.
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