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von human vegetable » 3. Jan 2021 18:13
Ich sehe da an mir selbst schon ein gewisses Dilemma: Einerseits ist mein Essverhalten wirklich zu 100% (na gut, 97%) von meiner emotionalen Verfassung entkoppelt.
Hört sich im Hinblick auf Gewichtsschwankungen erst mal gut an, aber ich zahle einen Preis: Ich esse jeden Tag nach exakt demselben Muster und wiege zumindest die Hauptenergieträger grammgenau ab; sämtliche Entscheidungen, die dann noch offen bleiben, sind zwischen verschiedenen Lebensmitteln einer Gruppe ("Hafer oder Quinoa?", "Spinat oder Grünkohl?"). Mich selbst belastet das zwar nicht, aber bei der sozialen Interaktion mit dem Rest der Familie knirscht es schon manchmal im Gebälk, und außerhäusig bin ich natürlich immer kompletter Selbstverpfleger (selbst auf Reisen). Da ist die Essensplanung und -beschaffung dann schnell die größte Herausforderung auf der Urlaubsreise.
Insofern möchte ich mich wirklich nicht als Vorbild hinstellen, das Label "Orthorektiker" mag schon seine Berechtigung haben. Wobei ich das nicht als diagnostisch klassifizierbare psychologische Störung verstehe, sondern eher als abfällige Beschreibung eines Menschen, der Gesundheit einen (zu?) hohen Stellenwert in seinem Leben einräumt.
Dagegen steht das Ideal vom "natürlichen" Essverhalten: Man hat Lust auf die Dinge, die gut für einen sind, und isst auch immer nur genau soviel davon, wie man wirklich braucht. Trotzdem schränkt man sich nicht ein, und lässt es sich auch mal gutgehen. Wenn man doch mal über die Stränge schlägt, dann isst man halt am nächsten Tag etwas weniger, usw. Hört sich toll an, na klar. Und in der Nutella-Werbung funktioniert es auch. Ich fürchte nur, in unserer realen obesogenen Umwelt ist dieses Ideal eine Sirene, das die allermeisten die ihm folgen gnadenlos auf die Klippe lockt.
Mag sein, dass es manche "natürlich schlanken" Menschen mit wenig effizientem Stoffwechsel gibt, und manche Menschen mit kaum Hungergefühl, aber das sind die extremen Ausnahmen. Die große Mehrheit der Menschen kommt auf Ernährungs-Autopilot gerade mal einigermaßen gut durch die ersten anderthalb Lebensjahrzehnte, und heutzutage oft nicht mal mehr das. Der freie Wille ist eine Fiktion - unser Appetitzentrum wurde von der Nahrungsmittelindustrie gehackt, wir sind willenlose Zombies und merken es nicht mal.
Mag sein, dass man nicht gleich so extrem werden muss wie ich und nach dem 80:20 Prinzip sein Gewicht auch gut halten kann, aber so oder so geht meiner Meinung nach an Selbstkontrolle und Einschränkung bis auf ausgewählte Ausnahmen kein Weg vorbei, wenn man sich nicht genau die richtigen Eltern ausgesucht hat. Traurig aber wahr.
"The greatest obstacle to discovery is not ignorance - it is the illusion of knowledge." - Daniel J. Boorstin
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